Coole Töchter und lange Treppen
Kreuzberger Schichten II – Ein Audiowalk von Jugendlichen durch Kreuzberg
Wo kommst du her? Wie war es dort? Weshalb und wie kamst du hierher? Was hast du unterwegs erlebt? Wie ist es hier für dich?
Kreuzberger Jugendliche befragten ihre Mütter, Väter, Geschwister. Die Interviews fanden zu Hause statt, Gespräche am Wohnzimmertisch. Dadurch sind die meisten Aufnahmen von guter klanglicher Qualität, klar verständlich, es gibt keine störenden Wind- oder Verkehrsgeräusche. Aus dem Material wurden kleine Audiostücke geschnitten. Diese zweiminütigen Tracks bildeten die Stationen des Audiowalks. Sie wurden über einen Ghettoblaster abgespielt – auf der Kanalbrücke, an einer Parkbank, in einem Hinterhof, im Windfang eines Hauseingangs, vor einem Reisebüro, aus einer zerstörten Telefonzelle heraus…
Ich habe mich mit ca. 15 Menschen auf den Weg gemacht, die Hörstücke der Kreuzberger Jugendlichen kennen zu lernen. Es war ein feucht-kalter Herbstnachmittag und schon dunkel. Die Straßen waren belebt von Menschen, die es eilig hatten, nach Hause zu kommen. Unsere Gruppe senkte die aktuelle Kreuzberger Durchschnittsgeschwindigkeit, indem sie den Fußweg versperrte oder weil die Geräusche aus dem Lautsprecher zum Stehenbleiben einluden.
Ich ließ mich gern führen, freute mich über die kurzen Stopps an unerwarteten oder unbekannten Orten.
Während des Spaziergangs sah ich mich mit einer Herausforderung konfrontiert, die mir in meiner eigenen Praxis mit SchülerInnen auch immer wieder begegnet: Wie kann es gelingen, dass die Hörstücke, die die Teilnehmenden produzieren, mehr Lebendigkeit, mehr Persönlichkeit, mehr inhaltliche Tiefe erhalten? Erfahrungsgemäß ist die zur Verfügung stehende Projektzeit sehr begrenzt, ebenso die Bereitschaft der Jugendlichen, mehrere Tage am Ball – oder besser am Thema – zu bleiben. Es sind nur zwei Teilnehmende des Projektes zur Aufführung des Audiowalks gekommen, keine Freunde und auch keine InterviewpartnerInnen. Mir kommt der Gedanke, dass beides miteinander zu tun haben könnte: das mangelnde Interesse am Aufführen und selbst am Hören der eigenen Werke – die ja erst Minuten vor der Präsentation vom Feintuning aus dem Tonstudio kamen – und das oft vergebliche Mühen, gehaltvolle Aussagen aus dem Gesprächspartner heraus zu kitzeln.
Mich bringt das dazu, Ideen anzudenken, wie dieser Herausforderung für eigene künftige Projekte begegnet werden kann. Sie werden hier lediglich gesammelt und müssen noch kritisch durchdacht, hinterfragt, weiter entwickelt, ausprobiert werden.
# Die Teilnehmenden ihren eigenen Interessen folgen lassen. („Kreuzberger Schichten“ wird immer dann lebendig, wenn die jungen Akteure einer Idee auf der Spur sind, einem Einfall folgen.)
# Vielleicht statt reiner Einzelinterviews themenbezogene Audiostücke entwickeln, die Aufnahmen mit verschiedenen Gesprächspartnerinnen zum gleichen Thema in sich vereinen (z.B. Collagen…).
# Teams bilden und Zwischenpräsentationen oder Zwischenevaluationen durchführen, bei denen sich die Akteure die Frage stellen: Wie können wir unsere Audiostücke mit dem, was wir zur Verfügung haben, noch besser machen?
# Produkte zirkulieren lassen: Teams erstellen Produktskizze (Storyboard o.ä.). Diese Skizzen zirkulieren zu einem anderen Team, das seine Ideen und Anmerkungen dazu macht. Dann Weiterarbeit an den eigenen Skizzen. Oder auch Weiterarbeit an dem Projekt eines anderen Teams?
# Leitfragen entwickeln: z.B. mindestens einer der folgenden Punkte soll erfüllt sein:
- ein Überraschungsmoment ist enthalten
- ich kann das Werk in einem Satz formulieren, und mit diesem Satz bin ich zufrieden
- ich habe mit verschiedenen klanglichen Ebenen (Sprecherstimme, O-Ton, Atmo, Musik) gearbeitet
Der Audiowalk Kreuzberger Schichten hatte für mich seine Höhepunkte, wenn die Persönlichkeit der Interviewer oder der Interviewten zu Tage traten, wenn ich die Lust am Inhalt oder am Experiment spürte.
Wenn die Tochter ihren Vater fragt, was er meine, weshalb er eine so coole Tochter hätte. Wenn ein Jugendlicher seinen scheinbar endlosen Weg durch die Treppen und Gänge von der Haus- bis zur Wohnungstür aufnimmt. Wenn einer der Projektleiter eine Jugendliche über ihre Meinung zur aktuellen Situation geflohener Menschen in Deutschland befragt…
Ich freue mich auf mehr davon in den Kreuzberger Schichten III!
Die Aufführung von Kreuzberger Schichten II war am 29.10.2015 um 17 Uhr
Projektteam: Julia Illmer und Massimo Maio