Zwischen Zebrastreifen und Einbahnstraße

Zwischen Zebrastreifen und Einbahnstraße

Frauengefängnis Barnimstraße. Ein Audioweg durch die Wahrnehmungswelten von Frauen in 5 politischen Systemen

Das Areal für diesen Audioweg ist nicht größer als ein Sportplatz. Es gibt jede Menge Straßen, Kreuzungen, Zebrastreifen, Bürgersteige, Fahrradwege und die dazugehörigen Verkehrsschilder. Das Netz aus Asphalt und Gehwegplatten ist von Bäumen durchsetzt, die alle jünger als 40 Jahre sind. 1974 wurde hier das Frauengefängnis Barnimstraße abgerissen und der Platz später zum Verkehrsgarten umgestaltet.

Der Audiospaziergang von Christoph Meyer führt auf entsprechend kurzen Wegen durch das Gelände der Jugendverkehrsschule. Meyer selbst spricht die kleinteiligen, sich notwendig ständig wiederholenden Laufanweisungen mit großer Ruhe und fast stoischem Gleichmut („Wenden Sie sich nach links. Sehen Sie die Ampel? Gehen sie zur Ampel. Überqueren Sie die Straße und gehen Sie fünf Schritte weiter. Bleiben Sie dann stehen …“). Mit viel Mut zu Pausen wechseln sich Wegbeschreibung und Inhaltliches ab. So entschleunige und schlendere ich in Dreiecken und Kreisen auf immer gleichen Wegen und gerate dabei tief und tiefer in die historischen Schichten des Ortes hinein. Ich lerne ehemalige Insassinnen des Gefängnisses kennen, die im Originalton oder vertreten durch Schauspielerinnen über ihre Haftzeit und das Leben vor der Verurteilung sprechen.

Für eine der Gefangenen begann es mit einem Blumenstrauß. Diese Anerkennung für die Erfüllung staatsbürgerlicher Pflichten durch frühmorgendliches Erscheinen in einem Wahllokal der Deutschen Demokratischen Republik brachte das Fass zum Überlaufen. War doch der Gram, sich weder getraut zu haben, gar nicht zur Wahl zu gehen, noch die Courage gezeigt zu haben, die Wahlkabine zu nutzen, schon groß genug. So landeten die Blumen mit wütendem Ausruf vor den Vertretern der Staatsmacht auf dem Fußboden und das Unheil nahm seinen Lauf: Repressionen, misslungener Fluchtversuch in den Westen, der Mann wurde erschossen, die Frau verhaftet und von ihrem Kind getrennt, Schauprozess …

Einer anderen ehemaligen Gefangenen wurden die Flugblätter, mit denen sie Plakate der Nationalsozialisten überklebte, zum Verhängnis. Sie überlebte die Haft und konnte nach England fliehen, kehrte nach dem Krieg zurück und half im Osten beim Aufbau einer neuen Gesellschaft. Wer den Sozialismus behindert, fand sie nun, müsse bestraft und weggesperrt werden …

Als nächstes kommt eine Ärztin zu Wort. Sie sinniert über die Erleichterung, die sie Kindern und ihren Angehörigen verschaffen konnte. Erst nach und nach begreife ich und mir stockt das Herz – die Medizinerin spricht von als lebensunwert deklarierten Kindern, denen sie die Giftspritze gab Nach dem Krieg wurde sie für ihr Mitwirken am „Euthanasie“-Programm der Nazis wegen Mordes verurteilt.

Weiter zurück in der Geschichte. Im wilhelminischen Deutschland schildert eine junge Frau, dass sie sich ein Leben mit unehelichem Kind nicht vorstellen konnte und es „wegmachen“ ließ. Sie wurde verhaftet und fand im Frauengefängnis Trost bei Rosa Luxemburg, die den Fehler im System erkannte.

Gemeinsam mit den Frauen bin ich zwischen Zebrastreifen und dem Verkehrsschild mit Mutter und Kind, zwischen Gartenhecke und Einbahnstraße in langen Gefängnisfluren unterwegs, in der Dunkelzelle und in der Anstaltswäscherei. Die Pappeln sind heute so hoch wie der Zellentrakt einst.

Christoph Mayer lässt die Frauen zu Wort kommen. Die Sprachaufnahmen sind, neben den Laufanweisungen, das einzige Material – Mayer hat daraus ein berührendes Feature zum Mitlaufen erstellt.

Kostenlos ausleihbar in der Jugendverkehrsschule, Weinstraße 2, 10249 Berlin. Mo-Sa 10-18 Uhr Weitere Informationen: www.barnimstrasse.de/

September 2015