Kakophonie der politischen Überforderung

Kakophonie der politischen Überforderung

Audiowalk „Stadt der Sehenden“, präsentiert vom Heimathafen Neukölln

Eine Geschichte über wütende Bürger und überforderte Politiker: Bei den Parlamentswahlen geben 80 Prozent der Wähler leere Stimmzettel ab. Wie reagiert die Politik auf diesen stillen Protest? Darum geht es in dem Roman „Stadt der Sehenden“ des portugiesischen Literaturnobelpreisträgers José Saramago – die Vorlage für den gleichnamigen Audiowalk, präsentiert vom Heimathafen Neukölln in Berlin.

Jeder Audiowalk braucht einen Ort und dieser hier ist prominent und mit klarem Bezug zum Thema gewählt: die Kuppel auf dem Berliner Reichstag.
Die MitarbeiterInnen des Heimathafen Neukölln begrüßen die Teilnehmenden und verteilen Baumwollbeutel mit Audiowalk-Accessoires: MP3-Player, Kopfhörer, Sitzunterlage und Filzdecke. Die Ansage dazu lautet: Play drücken und sich frei bewegen, es gibt keine vorgegebene Route. Also starte ich meinen MP3-Player und schlendere los über das Dach des Reichstags.

Ich bin zunächst sehr beschäftigt mit dem weiten Blick über die Stadt. In alle Richtungen kann ich über die Dächer schauen. Ich blicke in die Höfe des Reichstags, sehe den Teufelsberg im Westen, und entdecke sogar das Haus, in dem ich wohne. Dabei verpasse ich so einiges, was mir über die Kopfhörer erzählt wird. Und ich denke: Vielleicht ist dieses Dach doch zu spektakulär gewählt für einen Audiowalk.

Nach wenigen Minuten habe ich mich an den Ausblick gewöhnt und höre eine männliche Stimme, die mir einige fragwürdige Fakten über die Entstehung des Gebäudes erzählt. Nach einer Minute heißt es: Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, die Tour ist zu Ende. In der selben Sekunde geht das Stück jedoch weiter und zeigt, dass es gerne mit verschiedenen akustischen Erzählformen spielt, die Sprache klassischer Audioguides aufgreift und sie vermengt mit anderen Formen.

Hauptsächlich besteht das Stück aus gespielten Szenen und Dialogen. Politikerfiguren diskutieren darüber, wie auf den Protest der Bürger zu reagieren ist. Sie treffen radikale Entscheidungen, lassen zum Beispiel eine Bombe in der Innenstadt hochgehen, um die Bürger zu verunsichern. Entsprechend sind auch die Figuren und Szenen oft überspitzt und karikativ gezeichnet. Die Kanzlerin zum Beispiel klingt mal wie Angela Merkel, mal wie Gollum aus Herr der Ringe. Die Minister sprechen mal ernst, mal besoffen, mal lasziv.
Neben den Dialogen besteht das Hörspiel aus kleinen assoziativen Szenen und akustischen Elementen. Musik ist zu hören, geräuschhafte Rhythmen, verzerrte Stimmen, manchmal auch nur kurze, nicht näher erläuterte Aussagen wie „Kommt das Wort Fotze eigentlich auch aus dem Jiddischen? Kann schon sein.“

Insgesamt erzählt das Stück also nicht nur eine lineare Geschichte, es ist viel mehr eine Collage, eine Kakophonie politischer Überforderung. Die Politik hat auf den Protest der Bürger keine angemessene Antwort parat, keinen Plan. Und damit ist diese überspitzte Collage auch ein Kommentar zur ganz realen politischen Gegenwart. Denn eine überforderte, nach Antworten suchende und immer wieder auch scheiternde Politik gehört in diesen Monaten zum Alltag des Weltgeschehens – auch im deutschen Bundestag.

Der Ortsbezug ist also deutlich, auch wenn das Stück nie konkret auf den Ort Bezug nimmt. Es lenkt weder meine Blicke noch meine Aufmerksamkeit auf sichtbare Objekte oder Merkmale. Wahrscheinlich würde das Stück auch als klassisches, ortsungebundenes Hörspiel ganz gut funktionieren. Das Hörerlebnis auf dem Dach ist für mich jedenfalls eine Art rasches Zapping durch Stimmen, Szenen und Fragmente, immer wieder unterbrochen von unkonzentriertem Rauschen. Eine nicht unpassende Karikatur politischer Mediennarrationen. Nach einer Stunde ist der Audiowalk vorbei – die Accessoires aus dem Beutel habe ich nicht gebraucht.

 

Informationen zum Audiowalk:

Titel: Stadt der Sehenden – Ein utopistischer Audiowalk frei nach Jose Saramago
Macher: Nicole Oder (Text/Regie), Patrick Petzold (Sounddesign), Lena Reinhold (Text), Vera Schindler(Text), Ellen Gronemeyer (Klavier)
Ort: Dach des Berliner Reichstags
Dauer: ca. 1h

Foto: Verena Eidel