How To Hörspaziergang
Ein Leitfaden zur Produktion von Audiowalks

AUDIOWALK und HÖRSPAZIERGANG sind Begriffe, die bis jetzt keine feste Definition und kein eindeutiges Zuhause gefunden haben. Worauf sich wohl die meisten einigen können: Bei einem Audiowalk hörst du beim Gehen z.B. über Kopfhörer ein Hörstück, das sich auf den Ort bezieht, an dem du bist. Audiowalks können Elemente von Performance, Tanz und Theater enthalten, sie können reine Klangkunst-Projekte sein, sie können als Hörspiele im öffentlichen Raum oder als Streetgames funktionieren, sie können Vermittlungs-, Beteiligungs- und soziokulturell inspirierte Projekte sein. Allen Formen ist gemein, dass durch die Überlagerung von realem und medialem Raum sowie durch die Gleichzeitigkeit von imaginiertem und physischem Erlebnis, eine ganz besondere ortsbezogene ästhetische Erfahrung entsteht.
Ein gelungener Hörspaziergang ist ein gemeinsamer Tanz von Ort, Inhalt, Gestaltung und Technik. Was helfen kann, dass die vier Elemente einen Rhythmus finden, ohne einander beim Tanzen auf die Füße zu treten, haben wir mit How to Hörspaziergang zusammengetragen.
Du findest hier eine Sammlung von Hintergrundinformationen, Good-Practice-Beispielen, praktischen Tipps und theoretischen Überlegungen, die aus unserer eigenen künstlerischen Praxis heraus entstanden ist. Ein „Work in Progress“, so wie die Kunstform Audiowalk selbst.
Aus Gründen der Lesbarkeit verwenden wir in der Regel das generische Femininum und hoffen, dass mit dieser grammatikalischen Form alle Geschlechter inkludiert sind.
Ein Beispiel für eine Arbeit „mit dem und gegen das Archiv“ ist der dekoloniale Hörspaziergang zurückerzählt. Der Walk erzählt Geschichten von Schwarzen Kindern, Frauen und Männern im Berlin des Jahres 1896 und erweitert Archivmaterial durch Berichte und gegenwärtige Perspektiven von Schwarzen Menschen.
Überlegungen zur Dramaturgie gab es schon vor mehr als 2000 Jahren im antiken Griechenland. Damals stand das Theater im Zentrum dramaturgischer Fragestellungen, heutzutage sprechen wir auch bei Kinofilmen, Serien, Büchern, Hörspielen und anderen Erzählformen von „Dramaturgie“.
Menschen, die ihre Schulzeit im deutschsprachigen Raum verbracht haben, haben vermutlich schon mal vom sogenannten Regeldrama mit seiner Akt-Struktur gehört; einer Struktur die ihre Wurzeln in der Antike und ihren Höhepunkt in der französischen Klassik des 17. Jahrhunderts hatte. Noch im 19. und frühen 20. Jahrhundert lieferte das Ideal des „klassischen Dramas“ mit seinen 3 oder 5 Akten oft die Schablone für neue Theaterstücke.
Aus dem Deutschunterricht kennst du vielleicht noch das „Aktmodell“ von Gustav Freytag. Nach ihm lässt sich ein Theaterstück in fünf Teile einteilen. Kurz zusammengefasst:
1. Exposition: Der erste Akt dient dazu, die Charaktere einzuführen, das Setting zu etablieren und den Konflikt vorzustellen. Anders ausgedrückt: das Publikum erfährt, worum es in dem Stück geht.
2. Steigende Handlung: Im zweiten Akt entwickelt sich der Konflikt, die Spannung nimmt zu und die Hindernisse wachsen. Konfrontationen, Intrigen, überraschende Wendungen sowie kleine und große Krisen treiben die Handlung voran.
3. Höhepunkt / Peripetie: Die Konfrontation zwischen den Protagonisten und Antagonisten erreicht ihren Höhepunkt. Es wird klar, dass eine Entscheidung herbeigeführt werden muss. In diesem Akt geschieht die entscheidende Wende, die entweder zum Sieg oder zur Niederlage des Helden führt (übrigens: in den klassischen Dramaturgien wurde der Held stets als Mann gedacht. Heldinnen waren so selten wie Einhörner).
4. Fallende Handlung / Retardierendes Moment: Im vierten Akt verlangsamt sich das Geschehen wieder etwas. Die Konflikte nähern sich ihrem Ende beziehungsweise ihrer endgültigen Lösung.
5. Katastrophe / Auflösung: Im fünften Akt findet die Geschichte ihren Schluss. In der Tragödie mit einer Katastrophe und dem finalen Scheitern des Helden (oft gleichbedeutend mit seinem Tod), in der Komödie mit der Auflösung aller Verwicklungen und einem glücklichen Ende.
Wie gesagt, dieses Modell war lange Zeit attraktiv für so ziemlich alle Menschen, die Stücke für den kommerziellen Theaterbetrieb schrieben. Denn es lieferte eine bewährte und anerkannte Schablone für die Produktion neuer Dramentexte.
Die heutigen Vorstellungen von Dramaturgie haben sich weitgehend von diesem Schema gelöst. Dennoch stecken in den alten Dramentheorien Anregungen und Fragestellungen, die für deinen Audiowalk nützlich sein können:
Hat mein Walk eine Hauptfigur oder, wie es klassischerweise heißt, einen Helden bzw. eine Heldin? Gibt es einen Konflikt, ein Problem, eine wichtige Ausgangsfrage? Was ist der Schauplatz? Gibt es mehrere Teile? Wenn ja, woran erkennt man die? Gibt es Wendepunkte? Wo beginnt, wo endet der erste, zweite, dritte … letzte Teil? Gibt es am Schluss eine Katastrophe? Oder ein „Happy End“? Oder etwas ganz anderes?
Besonders wichtig ist der Anfang. Auch, wenn du dich bewusst dafür entschieden hast, nicht der Tradition zu folgen, wirst du zu Beginn wahrscheinlich in ein Thema einführen wollen. Oder gehört es zu deinem dramaturgischen Konzept, das Publikum erst einmal im Unklaren und Ungewissen zu lassen? Auch das kann ein guter Anfang sein, sollte aber bewusst geplant werden und nicht etwas sein, das aus Versehen passiert ist. Vielleicht möchtest du auch – ganz klassisch – eine Hauptfigur vorstellen und einen Konflikt etablieren. Wahrscheinlich möchtest du Neugier wecken und „Lust auf mehr“ machen. Aber wie kannst du das erreichen? Vielleicht, indem du komplementär denkst und im positiven Sinne übers „Ziel“ hinausschießt. Wie das? Natürlich kannst du klassisch einsteigen: „In diesem Walk erkunden wir die Arbeiterviertel Musterheims. Wir machen Station bei den Badeanstalten, den Wohneinheiten usw. und werden ... Sehen sie den bunten Plattenbau mit dem blätternden Putz vor sich? Als die ersten Arbeiter in den 50er Jahren hier in frisch geweißelte Wohnungen einzogen, war das für sie eine große Erleichterung. Herr XY erinnert sich noch gut daran.“ Das Ziel, das Thema ist da. Aber wie viel Neugier, wie viel Spannung erzeugt dieser Sprechtext?
Anders wäre es, wenn man etwa mit einem O-Ton startet, in dem der Zeitzeuge mit der tollen Stimme vor dem Mikrofon akustisch seine Narbe am Knie zeigt und erzählt, wie er sie sich als Kind beim Klettern über eine Mauer zugezogen hat. Warum könnte das als Einstieg einen stärkeren dramaturgischen Zug erzeugen? Vielleicht weil die kinderfeindliche Beton-Architektur für das Viertel charakteristisch ist. Vielleicht sieht man die vielen Mauern während des Walks dann mit anderen Augen. Vielleicht wird später ja auch davon erzählt, wie im Laufe der Zeit die Architektur des Viertels durch neue Maßnahmen menschenfreundlicher gestaltet wurde. Im übertragenen Sinne wäre damit die Wunde des Jungens verheilt, das Problem gelöst, die Reise zu Ende.
Übers Ziel hinausschießen. Oder auch: Komplementär denken. Andersherum zu denken. Das vermeintlich Nebensächliche zu betonen. Sich zu fragen: Was will ich sagen? Was muss ich dafür zeigen, zu Gehör bringen? Oft erzeugen erst die Widersprüche Spannung: Den Bösewicht im Film als feinsinnig und kultiviert darstellen, Liebe nicht mit dem küssenden Liebespaar darstellen – diese Grundsätze können (natürlich im übertragenen Sinn) auch für die Dramaturgie eines Audiowalks spannend sein.
(vgl. Johanna Steindorf (2018): Speaking from Somewhere. Der Audio-Walk als künstlerische Praxis und Methode
Die Initiative für dieses Projekt kam vom Kulturkosmos Leipzig e.V. Die inhaltliche Umsetzung lag bei den Soundmarkern, dem Labor für ortsbezogene Audioarbeiten. Technische und inhaltliche Beratung bekamen wir von Guidemate, der Plattform für Audiowalks.
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Autor*innen
Beratung


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