70 Jahre alte Berge

70 Jahre alte Berge

Audiowalk „Ge(h)schichten unter uns – Audiowalk auf Berliner Trümmerbergen“ 

Der Audiowalk beginnt ohne Kopfhörer. Die Teilnehmenden versammeln sich am Eingang zum Insulaner-Park in Berlin Schöneberg und werden alle persönlich von einer Frau mit Rollwagen begrüßt.
Die Frau erzählt: Unter uns liegen die Trümmer des zerstörten Berlin von 1945. Insgesamt 14 solcher Trümmerberge gibt es in der Stadt. Sie zeigt uns Fotos von kriegszerstörten Berliner Straßen und weist uns darauf hin, dass die Bäume um uns herum alle genau 70 Jahre alt sind. Würde man hier mit einem Spaten graben, was würde man finden? Nach dieser Einstimmung auf den Ort bekommen alle Teilnehmenden Player und Kopfhörer und der Audiowalk beginnt.

Zunächst ist Musik zu hören – abstrakte, gedehnte Klänge, die meine Gehgeschwindigkeit auf ein Minimum reduzieren. Andere Teilnehmende überholen mich. Alle gehen ihren eigenen Rhythmus, ihren eigenen Weg. Die einzige Vorgabe: Sei in 35 Minuten auf der nah gelegenen Kuppel des Hügels.

Ich höre die Stimme eines jungen Schauspielers. Er erzählt die Geschichte eines Zeitzeugen von 1945, von Karl-Heinz, der damals 17 Jahre alt war. Karl-Heinz war Flakhelfer, hat Kanonen am Gesundbrunnen gezündet. Kurz vor Ende des Krieges irrte er mit seinen Kameraden durch die Stadt. Hitler war bereits tot, die deutschen Kanonen so gut wie stumm und Berlin lag in Trümmern. An den Laternen hingen Deserteure, von der SS ermordet.

Während ich zuhöre, laufe ich durch den grünen Park den Hügel hinauf. Der Text nimmt keinen konkreten Bezug auf den Ort, an dem ich bin. Dennoch verknüpfen sich die Ebenen in meinem Kopf. Als der Weg unter meinen Füßen besonders holprig wird, frage ich mich, wie weit man wohl graben müsste, um tatsächlich auf die Trümmer von damals zu stoßen.
Der Audiowalk kommt ohne Anweisungen aus, ohne Richtungsvorgaben, ohne Blick auf Smartphone oder Karte. Das lässt viel Raum für die Wahrnehmung des Ortes. Ich sehe ein Schwimmbad, das an den Park grenzt. Einen grünen Rasen, eine rote Rutsche, Sonnenschirme auf den Balkonen drumherum. Und ich denke diesen unerhörten Gedanken: Man kann die Welt noch so brutal zerstören – nach spätestens 70 Jahren hat sie sich wieder erholt.

Immer wieder wird Karl-Heinz’ Erzählung durch Musik unterbrochen. Man erahnt Explosionen und Erschütterung, überblendet und verschleiert durch zahlreiche Schichten von Harmonien.

Nach 35 Minuten bricht der Audiotrack abrupt ab – doch die Führung ist noch nicht zu Ende. Die im Park verteilten Audiospaziergänger versammeln sich wieder in der Gruppe und geben die Kopfhörer ab. Wir erzählen von Momenten, die uns in Erinnerung geblieben sind – meist solche besonders großer Grausamkeit und Verstörung. Dabei kommen wir ins Gespräch. Wieso erzählen die Zeitzeugen auf so abgeklärte Weise von Leichenbergen? Haben die Schauspieler wirklich eins zu eins den Text der Interviews nachgesprochen? Und wieso gibt es heute gefühlt viel mehr Zeitzeugenberichte als noch vor 40 Jahren, als es noch mehr Zeitzeugen gab?

Die direkte Begegnung mit der Gruppe und der Vermittlerin geben diesem historischen Audiowalk einen sehr persönlichen und vergegenwärtigenden Kontext. Durch die Einführung und kurze Anweisung zu Beginn bleibt Platz für ein Hörstück ganz ohne Richtungsangaben und dafür viel assoziative Wahrnehmung. Mir bleibt am Ende das Gefühl, mit diesem Audiowalk eine ganz eigene Erfahrung gemacht zu haben – verstärkt durch den Austausch mit der Gruppe.

 

Informationen zum Audiowalk:


Titel: Ge(h)schichten unter uns – Audiowalk auf Berliner Trümmerbergen
Macher: Sonya Schönberger, Norbert Lang
Ort: Auf dem Trümmerberg Insulaner in Berlin Schöneberg
Dauer: ca. 1h