Frauen in der Dämmerung

Frauen in der Dämmerung

Im Jahr 2015 ist Johanna Steindorfs Audiowalk „The Strange Half-Absence of Wandering at Night“ entstanden, der vom B-Tour-Festival präsentiert wurde. Bei dem Festival habe ich den Audiowalk verpasst; daher nehme ich Kontakt zu Johanna Steindorf auf. Sie schickt mir die Audiodateien und schreibt: „ Die einzige Anweisung: Bei Beginn des Sonnenuntergangs irgendwo im Park losgehen.“ Da der Audiowalk beim B-Tour-Festival im Treptower Park stattfand, mache ich mich an einem verregneten Samstagnachmittag im Januar auf den Weg dorthin. Später stelle ich fest, dass es auch jeder andere Park hätte sein können.

Der Audiowalk dauert gut eine halbe Stunde und ist auf Englisch. Die Autorin scheint ihn selbst zu sprechen und sofort fällt ihre Orientierung an Janet Cardiff auf: Diese ruhige, in sich gekehrte Frauenstimme, die meinen inneren Monolog zu übernehmen scheint. Während es im Park in der nächsten halben Stunde langsam dunkel wird, schlendere ich durch die Dämmerung mit Kopfhörern im Ohr. Johanna Steindorf gibt keine Weganweisungen, ich kann mich frei bewegen und mich auf ihre Worte und die Veränderung der (Licht-)Stimmung im Park konzentrieren. Mir gefällt, dass die Beziehung zwischen Audiowalk und Tageszeit im Vordergrund steht und der in anderen Audiowalks übliche starke Fokus auf den Ort in den Hintergrund tritt. Das ist neu und funktioniert gut. Denn Johanna Steindorf versetzt mich durch ihre Stimme, ihre Worte und den hervorragend gemischten Teppich aus Klängen, Field Recordings und Musik in die Stimmung, die Atmosphäre aufsaugen zu wollen: das sich verändernde Licht, die Farbe des Himmels von blau über grau bis braun, die immer dunkler werdenden Silhouetten der Menschen.

Inhaltlich geht es um genau das, was ich erlebe: Das Flanieren in der Dunkelheit. Es geht um die schützende und die schaurige Wirkung der Dunkelheit, die einen umhüllt. Gleich zu Beginn des Audiowalks heißt es: „Don’t worry! You are not walking by yourself. You are in the company of many women throughout history.“ Diese Frauen sind reale und fiktive Personen, deren Bezug zum Flanieren in der Dunkelheit als Material für den Audiowalk genutzt wird. Es sind Frauen, “die ihre Freiheit des Gehens behauptet und damit Restriktionen und Konventionen ihrer Kultur und Zeit herausgefordert haben“, heißt es im Booklet des B-Tour-Festivals. Mit dabei sind zum Beispiel die französische Schriftstellerin George Sand (die sich Männerkleidung anzog, um sich draußen bewegen zu können), eine New Yorkerin namens Lizzy Shower (die 1895 wegen Prostitution eingesperrt wurde, weil sie alleine nachts draußen war und zwei Männer nach dem Weg gefragt hatte) und Alice aus “Alice im Wunderland”.

Ihre Geschichten sind hintereinander montiert, mal in Form eines originalen Radio-Interviews, mal in Form eines Liedes, meist aber in Form von Zitaten und Einordnungen durch Johanna Steindorf. Häufig verstehe ich nicht, wo eine Geschichte aufhört und die nächste beginnt, auch die Namen der verschiedenen Charaktere werden häufig durch ein „She“ ersetzt, wodurch alle Protagonistinnen zu einer Figur verschmelzen. So recht verstehe ich das Prinzip des Audiowalks erst am Ende, als es erklärt wird: „We join Alice, Judith, Rebecca, Patsy, Lizzy, Sylvia, Lila and George, Clarissa and Virginia, Jane and Andra who claimed their right to walk wherever they want, whenever they want. I evoke their spirits and articulate their thoughts through my voice which then gets into your head.“

Während des Audiowalks hat dieses Nicht-ganz-verstehen zwei Wirkungen auf mich. Zum einen versetzt mich der philosophisch-poetische Text in die Stimmung, mich treiben zu lassen, die Umgebung wahrzunehmen, inhaltlich mal etwas aufzuschnappen und mal den Text vorüberziehen zu lassen. Zum anderen würde ich manchmal gerne besser verstehen, wer gerade spricht und auch worüber die Stimme spricht, denn es gibt auch recht komplexe Textpassagen, die mir auf Englisch Probleme bereiten.

Ein weiterer Aspekt, über den ich mich wundere, ist der Fokus auf Frauen. Im Audiowalk heißt es: „Women have routinly been punished and intimidated for attempting that most simple of freedoms: taking a walk.“ Vielleicht betrifft das Frauen tatsächlich mehr als Männer, aber es ist kein Problem, das Männer nicht kennen. Dieser Fokus, der mich eher ablenkt als inspiriert, bewirkt eine Distanz zum Gehörten bei mir.

Nichtsdestotrotz schafft Johanna Steindorf es, mich für das Thema zu interessieren. Vor allem aber versetzt sie mich an einem verregneten Nachmittag im Januar in eine ganz besondere Stimmung und sensibilisiert mich für die wunderbaren Details, die der Treptower Park bei Dämmerung offenbart.

Über die Macherin:

Die Medienkünstlerin Johanna Steindorf realisiert Arbeiten mit Audio, Video und Fotografie. Sie hat Visuelle Kommunikation und Medienkunst studiert und erforscht derzeit im Rahmen einer Promotion an der Bauhaus-Universität Weimar die künstlerische Strategie von Audiowalks und ihre Beziehung zu den Themen Gender und Migration.

Foto: Jana Nowak